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Tanz auf dem Vulkan

Bericht vom Straubinger Tagblatt vom 5. März 2022
Autor: Monika Schneider-Stranninger

Genau das richtige Projekt für die Crazy Musical Company und genau das richtige Projekt für diese Zeit“, sagt Regisseur Andreas Wiedermann über „Anatevka“ und richtet den Blick Richtung Ukraine, wo gerade auf Putins Geheiß Zerstörung, Flucht und Sterben im Gange ist. In „Anatevka“ ist der Einfall zaristischer Horden thematisiert, die 1905 marodierend durchs Land zogen. Expansionsbestrebungen hier wie dort. Und Schicksale. Wiedermann inszeniert den Musical-Klassiker mit dem freien Ensemble, das heuer zehn Jahre besteht, in einer Besetzung von rund 60 Akteuren, und das trotz immer noch hinderlichem Corona-Damoklesschwert.

In den vergangenen zehn Jahren hat die Crazy Musical Company ganz bewusst eine Zeitreise durch die Welt des Musicals angetreten, sagt er. Es habe mit „Oliver“ begonnen, über Andrew Lloyd Webber bis „Jekyll and Hyde“. Und jetzt kehre man wieder zurück in die sechziger Jahre, zu „Anatevka“ als einem zeitlos schönen, weltweit funktionierenden Evergreen, der in seinen Augen überaus geschickt aufgebaut und sehr gut geschrieben ist. Wiedermann spricht von einem „großen gelungenen Panorama“. Das Schöne dabei: Viele Figuren bekommen eine Stimme – wie gemacht für ein großes Ensemble, eine Stärke der Crazy Musical Company, die jung ist, leidenschaftlich und Garant für eine Opulenz solcher Projekte, wie sie in der Region nicht alltäglich ist.

Truppen sind nur Befehlsempfänger

In die aktuelle Situation passe „Anatevka“ wie die berühmte Faust aufs Auge. In dem Musical geht es um polnische Ostjuden, die der Expansion des Zarenreichs im Weg stehen. Ihre Dörfer werden angezündet, die Bewohner vertrieben. Ein Zeitalter, auf das Putin in seinen seltsamen Reden explicit anspielt. Dabei ist „Anatevka“ der Name eines fiktiven Orts, an dem Ost- und Westjuden friedlich zusammenleben – bis zum Einfall zaristischer Horden. Eine vielsagende Parallele zu heute findet Wiedermann, dass Soldaten Abschreckungspogrome vollziehen, um den Machtanspruch eines Herrschers zu dokumentieren. Die Truppen, die das Gebiet widerrechtlich in Besitz nehmen, sind hier wie dort nur Befehlsempfänger und -ausübende. Eigentlich, sagt Wiedermann, verstehen sie sich gut mit den Juden und entschuldigen sich geradezu mit „Befehl von oben“. Man dürfe nicht eine ganze Nation zum Buhmann machen für die Verirrungen ihres Machthabers.

„Anatevka“ ist für ihn ein Stoff, der zutiefst mit der jüdischen Identität zu tun hat, sowohl was Autor und Komponist angeht als auch den Stoff. „Eigentlich ein Nachtrag zum jüdischen Gedenkjahr 2021“, sagt Wiedermann. Aber „in broadwaygerechter Aufarbeitung“.

Milchmann Tevje und seine fünf Töchter

„Anatevka“ sei zurecht ein Familienmusical, das viele komödiantische Seiten hat. Eigentlich, sagt der Regisseur, „geht es ums Wiederaufstehen“. Um einen Tanz auf dem Vulkan. Der „Fiddler on the roof“, das berühmte Chagall-Motiv, und der Roman „Tewje, der Milchmann“ von Scholem Alejchem, die Musical-Vorlage, sind Metaphern dafür, wie man sich durch Höhen und Tiefen des Lebens laviert, abstürzt und weitermacht. Mit zu Herzen gehenden Melodien. Mit Chuzpe, jüdischem Humor und sehr viel Charisma.

In den historischen Kontext gebettet ist die Geschichte des Milchmannes Tevje und seiner fünf Töchter, die konventionen-konform und sittenstreng unter die Haube gebracht werden sollen. Nur rebellieren die Töchter gegen alte Zöpfe und haben längst ihre Lebenspartner selber gefunden statt sich verkuppeln zu lassen…. „Das Stück spielt an einer Zeitenwende“, sagt Andreas Wiedermann. Ein gerade jetzt in diesen Tagen viel-gebrauchtes Wort.

Zeitenwende im komödiantischen Gewand

Was für ein Kunststück, daraus ein Musical zu machen. Anatevka kleidet die Zeitenwende in ein komödiantisches Gewand. Dorfszenen aus einem ostjüdischen Schtetl, aus einer verschwundenen Joseph-Roth-Welt voll liebevoller Nostalgie. In Andreas Wiedermanns Augen viele Gründe, sich von der Couch zu erheben und trotz Corona-Zermürbtheit ins Theater zu gehen. „Denn das analoge Gemeinschaftserlebnis ist durch kein Netflix zu ersetzen“, wirbt er für „die Magie der Bühne“. Premiere ist am 8. April im Theater am Hagen.